Werner Rödder

Der Schlangenbach
Eine stiftkemptische Fernwasserversorgung

Vor 500 Jahren regierte Friedrich III als Kaiser in den deutschen Landen und weil er damals gerade in der Reichsstadt Kempten residierte, brachte er so manches in Bewegung, von dem wir hier im Raum Kempten auch heutzutage noch zehren können. Friedrich verlieh nicht nur einigen Allgäuer Dörfern, wie z.B. Buchenberg, u.a.m. das Marktrecht und die Gerichtsbarkeit, sondern er war auch höchstpersönlich an der Gestaltung einer dringend notwendigen Wasserversorgung, einem Mühlkanal, für Stadt und Stift beteiligt.

Wenn wir uns nun in der Folge mit diesem künstlichen Bächlein befassen wollen, dann sollten wir zunächst gedanklich einen Sprung in die Vergangenheit machen, in das Ende des Mittelalters, als Albrecht Dürer in Nürnberg seine Werke schuf oder als Martin Luther seine neue Auffassung vom Christentum verkündete, und Christoph Columbus sich anschickte die neue Welt zu entdecken.

Damals musste in Stadt und Stift in den Handwerks und Gewerbebetrieben alle Arbeit von Hand getan werden, denn es gab weder Wasserkraft noch Elektrizität oder gar Erdöl. Es herrschte also außer den in der Kemptener Geschichte ohnehin üblichen Krisen allgemeiner Art auch noch eine Energiekrise. Wasserkraft bräuchte man, so hieß es, ein Bach müsste durch die Stadt fließen. Somit sehen wir, dass heutigen Menschen nicht die ersten, sind, die unter Energiemangel leiden. Das war früher schon genau so wie in unseren Tagen. Nur die Methoden mit denen man vor ein paar hundert Jahren solche Krisen meisterte waren grundsätzlich anders, denn es gab keine Massendemonstrationen und keinen Naturschutz, sondern es wurde lediglich und zwar unter Strafandrohung, angeordnet, was die Untertanen zu tun hätten. Den einen wurde befohlen mit Bauwerkzeugen zu erscheinen, die anderen mussten mit Pferd und Wagen Spanndienste verrichten und im Übrigen hatte die Bevölkerung durch besondere Abgaben für Finanzierung und Verpflegung zu sorgen. Und dann liefen die Aktionen an, wenn auch mit Murren, aber sie liefen. Diejenigen, welche bei uns so befehlen konnten, waren die Fürstäbte des Stiftes Kempten und die Energiekrise, die hier herrschte, sollte der nun zu bauende Mühlkanal überwinden.

Angefangen hatte es damit, dass Reichsstadt und Stift immer größer wurden. Immer mehr Betriebe wurden angesiedelt und der Ruf nach einer Energiequelle mit der die eigene Arbeitskraft geschont und die Arbeitsvorgänge rationalisiert werden könnten, wurde immer lauter. Das war gegen Ende des 15. Jahrhunderts und nichts lag näher, als sich die Flüsse und Bäche im Westen der Stadt mit ihrer Wasserkraft nutzbar zu machen.

Aber ganz so neu war der Gedanke an eine Wasserkraft von außen gar nicht. Denn einer, wenn auch nicht ganz exakten Überlieferung zufolge, hatte man schon im 12. Jahrhundert den Wiesbach durch einen Stollen in die Kanäle der Stadt geleitet. Wir lesen aber auch, dass die Bachverbauung oft zusammengefallen war oder gar zerstört wurde. Somit kann guten Gewissens angenommen werden, dass auch der erwähnte Stollen unbrauchbar wurde oder gar nicht mehr da war. Da man sich nun aber für den Wildmoosbach entschied, musste bei Eggen ein neuer Stollen gebaut werden. Und weil das für die damalige Zeit in Kempten ein schwieriges Unterfangen war, hat man für diesen Zweck ausländische – wahrscheinlich italienische Spezialisten verpflichtet. Neue Kanäle wurden. in der Stadt gebaut und alte sind renoviert worden.

Schließlich errichtete die Stadt noch ein Wehr und eine Schleuse in den Wildmoosbach, dort wo er mit dem Wiesbach zusammenfließt und so den Geyrenbach heute Göhlenbach bildete.

Zum ersten Mal sprudelten im Jahre1493 ein munteres aber schon leistungsfähiges Bächlein durch die Gebiete der Reichsstadt und des Stiftes. Die Lohstampfen, Mühlen und Sägen arbeiteten besser als zuvor darüber hinaus bot der Mühlkanal auch ein sehr begehrtes Feuerlöschwasser an. Er hatte nur einen Nachteil: Die Durchflussmenge war in hohem Maße von der Jahreszeit abhängig. Um dem abzuhelfen wurde ein Jahr später der Wildmoosbach bei Steufzgen angestaut. So entstand der Stadtweiher, der die Regulierung des Mühlkanals ermöglichte und der damals so beliebten Fischzucht neue Möglichkeiten bot. Der Bau dieses Weihers bedurfte allerdings der allerhöchsten Genehmigung des Kaisers Friedrich III, welcher in diesen Jahren gerade in Kempten weilte. Mit dessen Verfügung wurde sichergestellt, dass die meist armen Besitzer des Weihergeländes durch andere Grundstücke entschädigt werden mussten, was damals nicht unbedingt üblich war. Zunächst war in Stadt und Stift eitel Freude über das gelungene Werk. Aber mit dem weiteren Anwachsen der Stiftstadt wuchs auch deren Bedarf an Wasser. Um dem abzuhelfen regten die Stiftsherren an, durch den Bau eines Wehres Rottachwasser in den Mühlkanal zu leiten Jedoch die Stadt winkte energisch ab. Sie erwartete, dass das stiftische Korn auch in der Zukunft in den reichsstädtischen Mühlen gemahlen werden solle. Und so blieb es dann auch zunächst. Indes bei allen Streitereien, weiche der Mühlbach verursachte, erfüllte er doch über ein Jahrhundert die ihm gestellten Aufgaben. Zur Erinnerung sei gesagt, dass dieses Jahrhundert die Zeit des Fürstabtes Sebastian von Breitenstein und des Bürgermeisters Seuter war, welche durch den so genannten "Großen Kauf" in die Geschichte Kemptens eingegangen sind.

In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts tobte der 30jährige Krieg über die deutschen Lande und mit ihm kam wieder eine der eingangs erwähnten Krisenzeiten für Stadt und Stift. Beide waren danach im wahrsten Sinne des Wortes zerstört und der Wiederaufbau bot allergrößte Schwierigkeiten. Der damals regierende Fürstabt war Roman Giel von Gielsberg. Er plante mit großem Eifer und Energie den Neubau seiner Residenz, besann sich dabei seiner fürstlichen Macht und sperrte der Reichsstadt kurzerhand das Kanalwasser ab, um es voll für den Wiederaufbau von Residenz, Kirche und Stiftstadt zu nutzen. Damit aber flammte der alte Hass und Streit zwischen den lokalen Kontrahenten wieder auf und so kam es, dass schließlich unter Fürstabt Bernhard von Baden im Jahre 1677 das schon lang gewünschte Helenwehr in der Rottach entstand. Ein neuer Stollen leitete nun das Rottachwasser in den Stadtweiherbach, wodurch eine spürbare Verbesserung der Wasserversorgung des Kanalsystems erreicht werden konnte.

Inzwischen ging wieder ein Jahrzehnt ins Land. Zum neuen Fürstabt wurde trotz seines anfänglichen Widerstrebens Rupert von Bodman gewählt. Dieser erkannte sehr bald die Wichtigkeit eines zu allen Zeiten gleichmäßig und stark fließenden Mühlkanals, vor allem im Hinblick auf die Vergrößerung und wirtschaftliche Festigung der Stiftstadt. Er ließ deshalb im Gebiet zwischen dem Hohen Kapf und dem Hahnenmoos neue Quellen erschließen. Einen dort entspringenden Bach, der bisher sein Wasser in die Wengener Argen führte, ließ er anstauen. Dadurch entstand der Eschacher Weiher. Sein Wasser leitete man mittels Rohre in das damalige Bachbett der Kürnach und baute einen Kanal von der Pflaumenmühle über Wegscheidel und Masers in den Kollerbach. Damit wurde die Kürnach ihres Quellbächleins beraubt. Nördlich der Gemeinde Ermengerst hat man dann noch ein Wehr in den Kollerbach gebaut, welches einen Teil des Wassers über einen künstlichen Wasserlauf in den Ermengersterbach und damit in die Rottach leitete. So wurde im Jahre 1693 dieses für die damalige Zeit großartige Werk einer Fernwasserleitung für Stadt und Stift nach 200jähriger Entwicklungs und Bauzeit weitgehendst vollendet durch keinen Geringeren als dem ersten Erzmarschall Ihrer Majestät der Kaiserin des heiligen römischen Reiches deutscher Nation dem Fürstabt des Hochstiftes Kempten Rupert von Bodman. Der Herrenwieser Weiher wurde im Jahre 1769 erstmals erwähnt.

Von nun an spendete der Schlangenbach,wie er allgemein genannt wurde, der Stadt knapp 300 Jahre lang sein segensreiches Wasser. Außer als Antriebskraft nutzten es die Bürger auch zu Feuerlöschzwecken. Die Staufallen zum Absaugen des Wassers lagen und sind dort heute noch erkennbar vor der Residenz und auch in der Gerberstraße u.a.m. Es gab auch allerdings nur für den Notfall Abzweigungen in die Trinkwasserleitungen und das Distriktspital heute Kreiskrankenhaus bediente sich des Kanalwassers zum Reinigen der Bettwäsche. Eine weitere nützliche Aufgabe fiel dem Schlangenbach mit dem Reinigen der Kanalisation zu und oft führte er selbst das Abwasser der Stadt in die Iller.

Im Laufe der Jahre war der Bach aus dem Stadtbild nicht mehr wegzudenken und als schließlich am Anfang des vorigen Jahrhunderts als Folge der Säkularisation die Reichs und die Stiftstadt ihre Selbständigkeit verloren und sie sich nur noch zusammengenommen als Stadt Kempten darstellten, floss der Schlangenbach auf vielerlei Wegen offen oder mit Steinplatten zugedeckt und auch verrohrt am Straßenrand zwischen den Häusern und schließlich über die Wiesen der Iller zu. Ca. 33 Betriebe nutzten seine Wasserkraft und die Vielzahl der Kanalwege lassen den Gedanken an ein"KleinVenedig" aufkommen.

Im Verlaufe unseres Jahrhunderts allerdings begann der Wort des Stadtbaches mehr und mehr zu schwinden. Neue Technologien und neue Energien veränderten die bisher auf Wasserkraft angewiesene Betriebe, so dass der Bach heute aus dem Stadtbild vollkommen verschwunden ist. Der einzige Betrieb, der diesseits des Feilberges das Wasser noch benötigt, ist das Kupferwerk Wankmüller. Dessen Restwasser fließt im Gegensatz zu früheren Zeiten recht unromantisch, weil unterirdisch, durch Kanalisationsrohre zur Johannisbrücke und dort in die Rottach. Dieser verbliebene Wasserlauf wird wie damals im Jahre 1494 nurmehr aus dem Stadtweiher gespeist. Das Helenwehr in der Rottach ist geschlossen.

Die ehemaligen Wasserführungen sind entweder zugeschüttet oder dienen der Kanalisation. Der Mühlkanal vom Eschacher Weiher fließt also nur noch bis in die Rottach und könnte auf seinem Wege immer noch 3 Turbinen betreiben und zwar in der Pflaumenmühle, in Masers und in Ermengerst. Das sind schließlich die bescheidenen Reste eines Bauwerkes, welches insgesamt fast 500 Jahre Stadt und Land mit Leben erfüllte, den Menschen Arbeit brachte und den Wohlstand der Bürger förderte.

Eines allerdings ist noch geblieben, etwas von dessen heutiger Bedeutung und Nutzung die Erbauer des Mühlkanals damals nichts ahnten. Drei kleine Seen bieten seit langen Jahren den Bürgern aller Altersklassen und zwar mit, sowie z.T. auch ohne Textilien, Freude und Erholung. Gemeint sind der Stadtweiher, der Herrenwieserweiher und der Eschacherweiher von denen wir hoffen wollen, dass sie uns in ihrer schönen Umgebung und mit ihrem klaren Wasser noch einmal über weitere 500 Jahre erhalten bleiben.

Damit ist nun der Bericht über den Schlangenbach zu Ende. Manche Einzelheiten können gewiss noch durch das Studium alter Karten und Chroniken ergänzt werden Und wenn Sie, lieber Leser, nun den Wunsch verspüren sollten, das herrliche Durchflussgebiet des Baches vom Eschacher Weiher bis zur Rottach in Ahegg zu durchwandern, wobei es auch einige Burgställe, einen Galgenplatz, eine Römerstraße und die Reste eines Burgus zu besichtigen gibt, so setzen Sie sich doch einmal für ein paar besinnliche Minuten am Rande des Baches nieder und denken Sie über die Geschichte und die Geschichten dieses Wassers nach. Sie werden dabei in aller Bescheidenheit feststellen, dass wir heutige Menschen das so viel zitierte Pulver nicht allein erfunden haben, das taten auch schon andere vor uns.

Wo wären wir denn ohne die großen Gedanken und ohne die harte Knochenarbeit unserer Vorfahren, ganz gleich ob sie nun Fürstäbte oder deren Leibeigene waren.