Sonderdruck

SONDERDRUCK AUS DEM ALLGÄUER TAGBLATT vom Samstag, den 16. März 1968

Wo der Stadtbach rauscht ...

Der für Kempten einst so lebenswichtige Kanal mit interessanter Vergangenheit heißt auch Schlangenbach

Kempten. Immer, wenn ein Haus in unserer Stadt auf die Abbruchliste gesetzt wird, damit Platz entsteht für ein neues, modernes Gebäude oder für eine breitere Straße, dann erhebt sich für den Heimatfreund unweigerlich die Frage nach der Geschichte des der Spitzhacke anheim fallenden Bauwerks. Oft lässt sich feststellen, dass die unter der Wucht neuzeitlicher Maschinen einstürzenden Mauern in der Vergangenheit wesentliche Bedeutung besaßen und mit interessanten Kapiteln der städtischen Chronik in Verbindung zu bringen sind. Dies trifft auch für das Anwesen Eiband, Feilbergstraße 57, zu, das eines Tages dem Straßenbau seinen Tribut zu leisten haben wird. Nicht nur die Geschichte des Hauses selbst weist außerordentliche Vielseitigkeit auf, sondern beinahe noch aufschlussreicher sind hier die stadtgeschichtlichen Zusammenhänge, vor allem im Hinblick auf die Wasserversorgung und die Wasserkraftnutzung in vergangenen Jahrhunderten. Die Geschichte des Hauses Feilbergstraße 57 ist gleichzeitig ein Stück Geschichte des Schlangenbaches oder - wenn man will - des Stadtbaches.

Das Haus liegt an einem Wasserlauf, der in der Kemptener Geschichte durch viele Jahrhunderte eine sehr wichtige und interessante Rolle spielte. Doch zunächst sei noch in wenigen Sätzen die Chronik des Hauses Eiband geschildert Das Gebäude wurde 1785 von dem Rotgerber Johann Preher als Lohstampf und Ölmühle errichtet. Möglicherweise stand hier aber früher schon die 1712/19 erbaute fürstäbtliche Schleifmühle.

Um das Jahr 1804 wurde das Anwesen in zwei Werke geteilt welche die Wasserkraft des "Feilbergkanals" gemeinsam benützten. Im Jahre 1827 war der Besitzer ein Müller namens Joseph Anton Greif, der das Haus 1830 an den Müller Johann Georg Maier verkaufte. Im gleichen Jahr wurde dort auch eine "reale Gipsmühle" eingerichtet 1864 eine Schreinerei, 1866 eine Wattefabrik, 1873 eine Dorfwaschanstalt und Spulenfabrik, 1893 eine Drechslerei für Holz, Bein und Eisen.

1904 etablierte sich die Schreinerei Magnus Eiband in dem Anwesen, das zuvor noch den Schreinermeister Georg Herz, Frau Babara Wachter, Karl Wachter und Joseph Koch als Besitzer zu verzeichnen hatte.

Wasser für die Stadt

Der unter dem Hause Feilbergstraße Nr. 57 durchfließende Feilbergkanal ist Bestandteil einer der ältesten Kemptener Wasserversorgungseinrichtungen und deutet gleichzeitig auf die Anfänge der Energiewirtschaft in unserer Stadt hin. Es besteht auch ein enger Zusammenhang mit dem heute noch in gewisser Hinsicht aktuellen Thema der alten Rechte von Triebwerksbesitzern am Schlangenbach innerhalb der Stadt Kempten. Schon um etwa 1200 gab es einen Stadtbach, der streckenweise denselben Verlauf nahm wie der heute bestehende Kanal. Wasser war schon immer eine unerlässliche Voraussetzung für die Entwicklung unserer Heimatstadt. Wer heute im Gebiet des Stadtweihers spazieren geht oder in Alt- und Neustadt hier und dort dem Schlangenbach begegnet bzw. sein unterirdisches Rauschen vernimmt, der denkt bestimmt nicht an all die vielen Mühen, Arbeiten und Streitigkeiten, die sich in vergangenen Jahrhunderten um diesen Wasserlauf abspielten.

Durch Alt- und Neustadt

Der Schlangenbach heißt eigentlich nur in seinem neustädtischen Verlauf gegen Norden zur ehemaligen Brachsäge und dann nach Osten zur Rottachmündung und Iller so, und zwar wegen seiner verschiedenen Krümmungen. Der durch die Altstadt führende Bacharm (die Teilung erfolgt beim Anwesen Mühlweg 15, Wild) wird vielfach auch als Stadtbach bezeichnet. Er läuft in östlicher Richtung unter der Salzstraße hindurch über den Hildegardplatz und den Residenzplatz, dann durch die ganze Gerberstraße direkt in die Iller. Vom altstädtischen Bacharm gehen noch zwei kleinere Seitenbäche ab, von denen einer unter dem alten Schlachthof durchführt und unter dem Pfeilergraben (ehemaliger Stadtgraben) zur Iller hin strebt, während der andere durch die Brandstatt sowie die ganze Burgstraße zur Illerstraße und ebenfalls in die Iller fließt.

Künstliche und natürliche Wasserläufe

Der Schlangenbach bzw. der Stadtbach ist Bestandteil des großen Kanals vom Eschacher Weiher bis hinein in die Stadt Kempten. Dieser Kanal wurde im Jahre 1693 unter Fürstabt Rupert von Bodman erbaut. Er besteht teils aus künstlich angelegten Kanalstrecken, teils sind natürliche Bachstrecken, u. a. die Rottach, in die Anlage einbezogen. Die künstlichen Strecken bilden ein Drittel der Kanallänge.

Vor der Errichtung dieser für die damals neu entstehende Stiftsstadt lebenswichtigen Wasserversorgungs-Anlage gab es natrlich auch schon Wasserzuführungen, die zum Teil in gleichen Trassen verliefen. So hat die alte Reichsstadt Kempten etwa im 14. Jahrhundert einen krglich fließenden Stadtbach "aufgebessert", indem sie den aus je einem Bach aus der Gegend von Wirlings und Albris sowie aus Bucharts und Steufzgen sich bildenden Göhlenbach abfing und durch den Hügel von Eggen zum Feilberg und in die Iller führte. Zu diesem Zweck baute man einen 250 m langen offenen Kanal sowie einen 300 m langen Stollen durch den Eggener Berg. Der Stollenbau kann für die damalige Zeit als ausgesprochenes technisches Meisterwerk bezeichnet werden, zu dessen Herstellung wahrscheinlich auswärtige Bergknappen herbeigeholt worden waren.

Stadtweiher künstlich angelegt

Gleichzeitig mit der Durchstechung des Eggener Hügels dürfte ohne Zweifel der Hauptarm des reichsstädtischen Stadtbaches und dessen weiter oben erwähnte Abzweigung von der Brandstatt durch die Burgstraße entstanden sein. Zeitlich dürfte die Verstärkung des ursprünglichen Stadtbaches durch die Beileitung des Göhlenbaches mit der Anlage des heutigen Stadtweihers in etwa zusammenfallen. Die Genehmigung zur Anlage des Stadtweihers als Stauweiher erhielt die Reichsstadt Kempten im Jahre 1494 durch Kaiser Friedrich III.

Streit um den Kanal

Seit dem 16. Jahrhundert bildete die Benützung des Stadtbaches einen Bestandteil der ewigen Streitigkeiten zwischen Reichsstadt und Stift. Dabei erlaubte sich das Stift nicht selten Gewaltakte, versuchte aber andererseits durch die Anregung von Verbesserungen der bestehenden Anlage für sich Vorteile zu erringen und Konzessionen vom Rate der Stadt zu erlangen, deren Umfang dann eigenmächtig ausgedehnt wurde. Dabei stellte es sich für die Reichsstadt als äußerst nachteilig heraus, dass ihre Kanalanlage bis zum Kloster auf stiftischem Gebiet lag. Wenn auch die vom Stadtbach durchflossenen Grundstücke zumeist der Stadt oder städtischen Bürgern gehörten, so war doch dem Stift jeder Zugriff erleichtert.

Keine Konkurrenz geduldet

Je größer die Stiftsstadt wurde desto dringlicher wurde auch ihr Bedarf an Wasser, und was bot sich hier am ehesten an - natürlich der städtische Kanal. Schon 1566 zum ersten Mal und dann noch ein Mal im Jahr 1571 versuchte der Fürstabt, den Stadtrat dafür zugewinnen, dass auch die Rottach in den Göhlenbach und damit in den Stadtbach geleitet werde. Die Stadt lehnte jedoch ab, und meinte, das Stift solle ruhig die städtischen Mühlen und Werke benutzen, wobei im Jahre 1623 sogar noch großzügig angeboten wurde, dass man bei Benützung der Stadtmühle das Stift ebenso behandeln wolle wie die Einheimischen. Allerdings hatte die Stadt nichts dagegen, als das Stift eines Tages auf dem Feilberg einen Stauweiher anlegte. Eine Vergrößerung dieses Weihers aber wurde von der Stadt im Jahre 1626 abgelehnt.

Durch die Rottach verstärkt

Nach dem Dreißigjährigen Krieg, als der Neubau von fürstäbtlicher Residenz und Kirche sowie die Gründung und der Ausbau der Stiftsstadt eine ganz neue Lage herbeiführten, war man durch den stark vermehrten Wasserbedarf im wesentlichen auf die Wasserkraft des Stadtbaches angewiesen. Kurzerhand sperrte Fürstabt Roman Giel von Gielsberg der Stadt zeitweise das Wasser, ließ den Kanal streckenweise verändern und vor allem einen Seitenarm zur Residenz anlegen. Und endlich kam 1677 auch die Zuführung der Rottach in den städtischen Wasserkanal durch das Helenwehr zustande, wenn sich auch die Stadt längere Zeit dagegen gesträubt hatte.

Neue Mühlen entstanden

1693 ließ Fürstabt Rupert von Bodman dann den Kanal durch die großzügige Anlage des Eschacher Weihers und der Zuleitung von dessen Wasser erheblich verbessern und ausbauen. Nach Vollendung dieser Anlage errichtete das Fürststift nach Bedarf neue Mühlen und Werke an diesem Kanal, obwohl sich die Stadt dagegen zur Wehr setzte. 1735 kam zwischen Stift und Stadt ein Vergleich über die Wasserverteilung des Stadtbaches zustande, wonach die Stadt vier Neuntel und das Stift fünf Neuntel des Wassers erhalten sollte.

Eine weitere Verbesserung des Kanals Eschacher Weiher -Stadt Kempten stellte die Anlage des Herrenwieser Weihers dar, der 1769 erstmals erwähnt wird.

Im Jahre 1802/03 fiel der Kanal durch die Säkularisation dem Kurfürstentum Bayern zu. Erst 1844 wurde der Wasserlauf nach jahrzehntelangen Verhandlungen an die Stadtgemeinde abgetreten.

Bachwasser auch zum Trinken

Der Kanal mit Schlangenbach und Stadtbach hatte vor allem die Aufgabe Wasserkraft zu liefern, war zeitweise aber auch wegen ungenügender Versorgung dazu verwendet worden, das Trinkwasseraufkommen zu verstärken. Die Wasserleitungen besaßen deshalb die nötigen Vorrichtungen, um das Bachwasser in Quellleitungen einzuleiten. Die Kanäle im Gebiet der Residenz hatten auch noch den Zweck, Abwasser zu beseitigen.

Interessant war die so genannte "Wiedervergeltungsdohle", eine Einrichtung, die aus dem neustädtischen Bacharm so viel Wasser in den altstädtischen Bach zurückführte, als aus dem altstädtischen Bach vom Residenzplatz weg in die Residenz floss.

Gerhard Wolfrum