Wer zum ersten Mal nach Kempten kommt und versucht, einen Überblick über die Stadt zu gewinnen, der wird
bald feststellen, dass das gar nicht so leicht ist. Es wird nicht viele Städte geben, die in ihrem Aufbau derart
sind wie Kempten.
Die Schwierigkeit, sich in Kempten zu orientieren und sich von der Anlage der Stadt ein Bild zu machen, hängt zusammen mit dem
historischen Werdegang Kemptens.
Dieses Kempten ist nämlich erst seit ungefähr 1818 eine Stadt. Zuvor waren es zwei dicht nebeneinander liegende Städte gewesen:
die alte Reichsstadt Kempten (die heutige Altstadt) und unmittelbar daneben die auf der westlichen Illerterrasse etwas höher
gelegene Fürstäbtliche Stiftsstadt Kempten (die heutige Neustadt). Diese beiden 1818 auf Befehl des Königs von Bayern vereinigten
Städte bilden den Doppelkern der modernen Stadt.
Verhältnismäßig einfach ist der Werdegang der Neustadt. Ihre Geschichte beginnt erst nach dem Jahr 1000 mit der Verlegung des
Klosters Kempten aus dem Zentrum der Altstadt an die Stelle, wo heute in der Neustadt die "Residenz" steht. Rund um dieses
Kloster und sein um 1180 vollendetes Münster begann seit dem 11. Jahrhundert eine Siedlung zu wachsen, die etwa ab 1560
stadtähnliche Form anzunehmen anfing, dann aber infolge der Zerstörungen von 1632 und 1634 wieder so ziemlich vom Erdboden
verschwunden ist. Der Neubau der St. Lorenzkirche und der Fürstäbtlichen Residenz unmittelbar nach Beendigung des
reißigjährigen Krieges ergaben von neuem ein Zentrum, um das sich in verhältnismäßig kurzer Zeit wieder eine Siedlung von
klösterlichen Bediensteten, Beamten und Handwerkern bildete, die im Jahre 1712 dann das Stadtrecht erlangte.
Nicht so einfach liegen die Dinge bei der Entwicklung der Altstadt. Sie hat keinen eigentlichen Mittelpunkt, wie es bei alten
Städten Pfarrkirche, Marktplatz oder Rathaus sind. Die mittelalterliche Reichsstadt Kempten ist zusammengewachsen aus vier
Siedlungen, die ziemlich unabhängig voneinander im Laufe der Jahrhunderte nebeneinander entstanden sind. Da ist zum ersten das
vorchristliche keltische Oppidum auf und dicht bei der Burghalde, mit dessen Bereich sich auch das spätrömische Kempten des 3.
und 4. nachchristlichen Jahrhunderts ungefähr deckt. Nicht weit davon dürfte zu Beginn des 5. Jahrhunderts das frühalemannische
Kempten entstanden sein, das wohl nur den bescheidenen Umfang eines Dorfes gehabt hat.
Zur Bildung eines kräftigeren dritten Kerns führt dann im 8. Jahrhundert die Gründung des
Benediktinerklosters im Bereich des heutigen St. Mang-Platzes.
Ein vierter Bezirk erwuchs schließlich aus der wahrscheinlich neben der Klostereinrichtung herlaufenden
Anlage eines fränkischen Königshofs an der Stelle des heutigen Rathauses.
Dieses ursprüngliche Nebeneinander der vier Siedlungsbereiche ist durch mittelalterliche und neuzeitliche
Stadterweiterungen verwischt worden.
Mehr als 1000 Jahre lang haben sich die feindlichen Schwestern, Stadt und Stift, allen erdenklichen Tort
angetan, haben gegeneinander prozessiert, haben sich bei den Großen des Reichs und der Welt gegenseitig denunziert, haben
sich boykottiert und, wo immer sich eine Gelegenheit dazu bot, auch ruiniert.
Es war ein ausgesprochener Fall von Erbfeindschaft. Beide Städte standen auf demselben Boden, die Bürger
beider atmeten dieselbe Luft, im übrigen aber wollten sie nichts miteinander zu tun haben.
Seit 1220 war der Abt des Klosters Kempten souveräner Reichsfürst, bis zum Jahr 1802 genau so wie
etwa der König von Preußen oder der Kurfürst von Bayern. Und der Bürgermeister der kleinen Reichsstadt Kempten,
oder wie man zeitweise auch stolz firmierte, der "Republik Kempten ", grüßte seit 1289 seinen allerdings etwas
bedeutenderen Kollegen, den Dogen von Venedig, zwar mit Hochachtung, im übrigen aber als seinesgleichen. Genau
besehen waren die beiden Gemeinwesen, die da als Stift und Stadt Kempten mehr schiedlich als friedlich beisammenlagen
eigentlich sogar zwei Staaten.
Durch Mauern, Verbote und Schikanen versuchten Stift und Stadt jahrhundertlang sich möglichst
luftdicht gegeneinander abzukapseln. Schließlich hatte jedes der beiden Gemeinwesen seine eigenen Gesetze,
sein eigenes Militär, sein eigenes selbstgeprägtes Geld, eigene Finanzhoheit, eigenen Markt und natürlich auch
jedes seinen eigenen Galgen, der selbstredend nur für die eigenen Landeskinder bestimmt war. Als es seit der
Reformation zweierlei Bekenntnisse gab, wurde natürlich die Reichsstadt sofort protestantisch, während das
Stift katholisch blieb.
Das konfessionelle Nebeneinander der nachreformatorischen Zeit hat im Bild der Stadt seine
Spuren hinterlassen, als alle protestantischen Institutionen in der Altstadt liegen, während dem gleichen
Zweck dienende Einrichtungen katholischer Konfession in der Neustadt zu finden sind: Kirchen, Schulen,
Pfarrhäuser, Waisenhäuser, Krankenhäuser und Friedhöfe.
So kommt`s auch, dass die Stadt Kempten heute zweimal im Jahr Jahrmarkt hat, nämlich
den Himmelfahrtsmarkt und den Kathreinemarkt. Ersterer ist hervorgegangen aus der uralten Kempter
Kirchweih, die seit dem Jahre 774 zu Ehren der Kempter Kirchenpatrone, der "Herren" Gordian und
Epimachus, am 10. Mai, als sogenannter "Herrentag" begangen worden ist. Nach Abschaffung dieses
Tages als kirchlicher Feiertag verlegte man die mit ihm wohl von Anfang her verbundene Marktmesse
auf den zeitlich am nächsten liegenden Feiertag, nämlich Christi Himmelfahrt. Den herbstlichen
Kathreinemarkt hat das Stift Kempten erst 1714 eingeführt.
Die jahrhundertlange kompromisslose Trennung von katholischer Neustadt und
protestantischer Altstadt war im Bewusstsein der einheimischen Bevölkerung so stark verwurzelt,
dass noch 30 Jahre nach der 1818 widerstrebend hingenommenen Vereinigung von Alt- und Neustadt
anlässlich der Erbauung des Kempter Bahnhofs im Jahre 1848 von Seiten der Bürgerschaft die Frage
gestellt werden konnte, ob dies der katholische oder der evangelische Bahnhof werden solle.
Quelle: "Geschichte der Stadt- und Kreissparkasse Kempten" herausgegeben von Alfred Weitnauer; Schwabenverlag Kempten